Beitrag von Henrietta
Es gibt so Phasen, da häufen sich bei uns im Forum die Abnehm-Threads. Frauen, die gemeinsam eine Diät oder eine Ernährungsumstellung angehen, sich von Erfolgen berichten, manchmal Bilder zeigen, sich gegenseitig ermutigen… Alles schöne Dinge. Solidarität, Gemeinschaft, Erfolg, ein gutes Körpergefühl. Oft erzählen sie auch von verletzendem Verhalten, dem sie ausgesetzt sind, von Beleidigungen wegen ihres Gewichts, bei denen mir die Ohren schlackern und ich fast nicht glauben möchte, dass es tatsächlich Leute gibt, die sie nur wegen ihrer Figur so schamlos angehen. Manchmal gibt es auch handfeste medizinische Gründe, an Gewicht und Ernährung heranzugehen.
Trotzdem machen mich diese Threads immer wieder ratlos. Ich sehe auf den Bildern hübsche Frauen, die ich mir von ihrer Selbstbeschreibung her deutlich dicker vorgestellt hätte. Ich lese von deutlichen Nebenwirkungen des Abnehmens, am übelsten davon finde ich Unkonzentriertheit und Gedächtnisstörungen. Und vor allem finde ich es immer wieder atemberaubend, wie viel Zeit und Energie, wie viel Potenzial und Lebensinhalt in das leidige Gewichtsthema fließen. Sich wiegen, Essen abwiegen, Kalorien zählen, über Essen nachdenken… ich wünsche jeder einzelnen, die das tut, dass sie dadurch zufriedener und selbstbewusster wird. Trotzdem finde ich es schade um alle diese Energie, mit der sie auch deutlich andere Sachen machen könnte. Hannah Arendt lesen oder nähen, ein Buch schreiben oder Arabisch lernen, im Chor singen oder beim urban gardening einsteigen, was auch immer. Was nicht heißt, dass ich unterstelle, sie täten nichts anderes als abnehmen. Mich beschleicht nur immer wieder das Gefühl, dass da wirklich viel mehr möglich wäre, was letztlich das Leben reicher machen würde als das „richtige“ Gewicht. Wenn die Abnahme erst in die Lage versetzt, sich wieder als wirksam zu erleben und sich etwas zuzutrauen: Super. Schade nur, dass das Selbstwertgefühl vorher überhaupt erst so beschädigt wurde.
Dabei sind Körperbilder massiv gesellschaftlich beeinflusst, was als schön und gesund gilt, das ändert sich im Laufe der Geschichte immer wieder, und natürlich gibt es auch noch Unterschiede, wie Übergewicht bei Männern und bei Frauen betrachtet wird. Niemand ist eine Insel, und natürlich brauchen Menschen gesellschaftliche Anerkennung. Niemand will Zielscheibe von Spott, ausgegrenzt oder beim Arzt nicht ernstgenommen werden, weil alle gesundheitlichen Probleme auf Übergewicht geschoben werden. Dabei ist auch die Grenze, wo Normalgewicht aufhört und Übergewicht anfängt, nichts anderes als eine gesellschaftliche Konvention. Es gibt keine objektiven Kriterien dafür, und ob es sinnvoll sein kann, die eigenen Proportionen in einen Body-Mass-Index zu pressen, bezweifle ich auch – wie sinnvoll kann es sein, sich an einer Richtgröße zu orientieren, die das eigene Gewicht in Relation zu dem setzt, was ich herausbekomme, wenn ich meine Körpergröße mit sich selbst multipliziere, mich quasi als Quadrat betrachte?
Ich ärgere mich über Bilder zu Artikeln über zunehmendes Übergewicht wie neulich bei Spiegel online, die nichts anderes als fat shaming sind, weil sie das Vorurteil von den verfressenen, dummen Dicken schüren. Ich ärgere mich darüber, dass Gewicht und Gesundheit in Zusammenhang gesehen werden, die weiteren Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Armut, Lebensperspektiven und Teilhabechancen aber viel zu wenig thematisiert werden. Ich ärgere mich darüber, welcher Druck auf Menschen ausgeübt wird, deren Proportionen nicht in gängige Kleiderschnitte passen und die nur verlieren können beim Versuch, als Individuum passende, schöne Kleidung für sich zu finden. Und ich denke daran, wie elend ich mich gefühlt habe, als ich kürzlich nach einer heftigen Infektion tagelang keinen Appetit hatte und nichts essen mochte. Der Genuss des Essens hat mir wirklich sehr gefehlt.
Ich wünsche allen, die wegen ihres Gewichts mit sich unzufrieden sind, dass sie gute Wege finden, damit umzugehen – sei es mit Abnahme oder ohne. Aber noch mehr wünsche ich ihnen und mir, dass diese Bewertung von Menschen anhand ihres Gewichts gesellschaftlich geächtet wird, genauso wie zum Glück schon viele Formen von Rassismus und Sexismus geächtet werden oder zumindest ein Problembewusstsein dafür besteht. Wie viel ich wiege, soll nicht meine Frage sein. Ich möchte als nächstes Hannah Arendt lesen, das hatte ich schon lange vor.