Ein Beitrag von Henrietta
Zwei versteinerte Fußspuren, dreieinhalb Millionen Jahre alt. Damals gingen in der Laetoli-Savanne auf dem Gebiet des heutigen Tansania ein männlicher und ein weiblicher Menschenähnlicher nebeneinander. Von ihnen sind nur diese Fußspuren geblieben, mehr wissen wir von diesen beiden nicht. (Vielleicht waren es auch drei, nicht einmal das ist sicher.)
Umso erstaunlicher, dass viele Illustrationen, die versuchen, die Szene zu rekonstruieren, eine ganze Menge Wissen vorgeben: Da hat der Mann einen Knüppel in der Hand, die Frau nicht. Manchmal hat er gar den Arm um sie gelegt. Jaja, so war er, der Urzeitgentleman. Immer wachsam unterwegs, um seine Frau mit dem Knüppel zu verteidigen, und später in der Steinzeit im Zweifel immer auf der Jagd, während die Steinzeitfrau in der Höhle blieb, das Feuer hütete und aus Knochennadeln Gewänder nähte.
Am Abend beim Feuer dann machte er mit den anderen Männern Musik, während sie mit den anderen Frauen das Essen zubereitete, und so weiter. Wir nehmen diese Legende vom Jäger und der Sammlerin als gesichertes Wissen an. Nicht immer ist das so leicht als nachträgliche Zuschreibung zu erkennen wie bei den Fußspuren – dort entlarvt sich diese Vorstellung dann eindeutig als Fiktion. Wie stark diese Fiktion ist, merkt man auch daran, dass es nur sehr wenige Skizzen der Fußspuren-Szene gibt, die nicht heutige Vorstellungen von männlicher und weiblicher Rollenverteilung nachträglich in die Szene eintragen, sondern der Frau auch einen Knüppel gönnen.*
Er Beschützer, sie zu beschützen: Das ist das Ergebnis, wenn man eine heutige Vorstellung von „natürlichem“ Rollenverhalten in die Steinzeit zurückdatiert. Dabei hat der Mensch in diesem Sinne keine Natur: Man spricht in der Entwicklungsgeschichte erst dann vom Menschen, wenn er Werkzeuge herstellt, Sprache entwickelt, seine Toten begräbt, kurz: ein kulturelles Wesen ist. Er ist als Mensch eben nicht mehr ausschließlich von Natur und Instinkt bestimmt. Es gibt dann günstige und ungünstige Bedingungen für seine Entwicklung, aber nicht mehr das „Natürliche“ und das „Unnatürliche“.
Unter dem Stichwort „bedürfnisorientiertes Elternsein“ ist nun häufiger vom natürlichen Umgang mit Babys die Rede. Meist ist damit der schöne Dreiklang Stillen-Tragen-Schlafen gemeint. Stillen ist das gesündeste für Kind und Mutter, gemeinsames Schlafen und häufiges Tragen geben Nähe und stärken Bindung und Grundvertrauen. Damit kann – und soll – man gern argumentieren. Man kann hier auch von natürlichen Bedürfnissen des Menschen sprechen. Schwierig wird es, wenn man davon spricht, wie diese Bedürfnisse von Natur aus zu erfüllen sind, oder wie Rollen in der Familie von Natur aus aufgeteilt sind – in Bezug auf die Steinzeitfamilie etwa derart, dass die Kinder zur Mutter gehören und die Mutter wiederum in die Höhle – heute also die Wohnung oder das Haus. Nicht nur, dass wir keine Steinzeitmenschen sind – vielleicht haben die ja andes gelebt, als wir denken, sind alle gemeinsam auf die Jagd gegangen, haben Frauen bewaffnet Wache stehen lassen beim Sammeln, haben Männer mit dem Herstellen von Nadeln und Kleidung beauftragt. Das wäre genauso gut denkbar wie die Darstellung vom Mann unterwegs und der Frau in der Höhle, an die wir uns gewöhnt haben, eher noch wahrscheinlicher. Es wäre darum besser, eher davon zu sprechen, was (kleine) Menschen brauchen und was gute Bedingungen des Aufwachsens sind, als Natur und Natürlichkeit zu betonen und die Steinzeitfamilie als Begründung für bedüfnisorientiertes Elternsein heranzuziehen.
Mehr zu Geschlechterklischees zur Steinzeit gibt es in diesem spannenden Beitrag: Forschende entzaubern die Steinzeit-Klischees
*So im leider derzeit nur antiquarisch erhältlichen Buch von Claudia Schnieper und Udo Kruse-Schulz: „Auf den Spuren des Menschen“, erschienen 1999 beim Kinderbuchverlag Luzern, ein wirklich heißer Tipp für alle, deren Kinder sich für die Menschheitsgeschichte interessieren!